Uster, Villa Grunholzer: GRIMASSEN
22.10.2020

Eine Begegnung mit Karl Kraus





WIEN / Kabinett-Theater: GRIMASSEN
19.09.2020

Peter Schweiger, gebürtiger Wiener, der hier in der Freien Theaterszene als Regisseur begonnen hat, ist früh in die Schweiz abgewandert, wo er noch heute lebt. Er hat von 1983 bis 1989 das Theater am Neumarkt in Zürich geleitet und war von 1993 bis 2004 Schauspieldirektor am Theater St. Gallen. Als Regisseur hat er sich vordringlich der Moderne und hier dem Musiktheater verschrieben. Mit seiner Ehefrau, der Pianistin Petra Ronner, gibt er Abende, in denen die Musik sich quasi kommentierend in den Text webt.


Peter Schweiger, berühmt für seine exquisite Sprechkultur, ist natürlich bei einem Sprachkünstler wie Karl Kraus am besten aufgehoben. Kein Wunder, dass die beiden Gastspielabende im Kabinett-Theater ausverkauft waren, so weit das eben bei Corona erlaubt und möglich ist. Eineinhalb Stunden lang paradierte der Journalist und Dichter, der über seine Mitwelt die Peitsche schwang, in erstaunlicher Bandbreite seiner Themen vor dem Publikum, immer wieder das Gewitter von Sprache und Gedanken entfesselnd, mit denen Kraus seine Mitwelt überfiel.

Dennoch: Schweiger begann seine Auswahl mit dem „privaten“ Karl Kraus und seiner großen Liebe, Sidonie Naderny, der er unglaubliche Liebesbriefe schrieb (wie er auch ein durchaus gefühlvoller Lyriker sein konnte). Kraus, der Unmenschlichkeit geißelte, zeigte sich von seiner menschlichsten Seite angesichts eines Briefes, den Rosa Luxemburg im Gefängnis geschrieben hat, voll Mitleid mit der Kreatur (in diesem Fall die Büffel, die von den Soldaten als Lasttiere gnadenlos geschunden wurden). Ein zynischer Leserbrief angesichts von so viel „Sentimentalität“ provozierte ihn zu einem Wutausbruch ohnegleichen.

Wie zynisch und ätzend Kraus sein konnte, zeigte Schweiger in einer Passage, wo er den Dichter selbst zu Wort kommen ließ (es gibt Aufzeichnungen seiner berühmten Lesungen, zu denen sich ganz Wien drängte): Hier schildert er eine Touristenfahrt zu den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, Kaffee und Kuchen stets inbegriffen…

Im übrigen durchschreitet Peter Schweiger in dem Programm das, was man im allgemeinen die „Aphorismen“ und „Betrachtungen“ von Kraus nennt, treffende Mini-Formulierungen, die pointiert und böse ins Schwarze treffen und ebenso entlarven wie ausführlichere Analysen der dunklen Seiten der menschlichen Natur…

Am Ende landet Schweiger bei dem Thema, das Kraus-Biographen und Interpreten bis heute schwer beschäftigt, nämlich sein Verstummen angesichts der Erscheinung von Adolf Hitler. Sein „Zu Hitler fällt mir nichts ein“ wurde einer der berühmtesten Kraus-Sätze – Schweiger versucht rundum zu erklären, warum der schärfste Kritiker von allen seine Waffen niederlegte, statt hier den Kampf aufzunehmen…

Immer wieder greift Petra Ronner am Klavier in den Text ein, mit scharfer Musik von Josef Matthias Hauer oder Hanns Eisler, vor allem aber mit Klängen von Offenbach, der neben Nestroy zu den Lieblingen von Karl Kraus zählte: Er hat zu zahlreichen Offenbach-Operetten neue scharfe Couplet-Texte gedichtet, und einige davon – vom Sprecher Peter Schweiger dann gesungen – sorgen dafür, dass der Abend nicht zu dicht und düster wird. Denn, das macht der Künstler klar: Mit Karl Kraus war nicht zu spaßen.

Renate Wagner
https://onlinemerker.com/wien-kabinett-theater-grimassen/



Verführt

Der Friederike Mayröcker-Abend in der Reihe "Sprechmusiksprachen" im sogar Theater
war die bare sinnliche Verführung mit Sprache und Musik, selbst oder gerade weil den
Texten der bald 90-jährigen Wienerin inhaltlich nur sehr bedingt mit dem Verstand
beizukommen ist.

Peter Schweiger, der auch schon das Gilgamesch-Epos am Schauspielhaus zur Musik eines
ganzen Orchesters gesprochen hat, kann mit seiner Stimme alle in seinen Bann locken, das
war bereits vor diesem Abend bekannt und ist natürlich die bestmögliche Voraussetzung für
eine gelingende Verführung des Publikums. Mit dem Klavierspiel von Petra Ronner in Kom-
bination mit Naturgeräuschen vom Verkehrslärm über das Vogelgezwitscher bis zum Grillen-
zirpen lässt sich bereits atmösphärisch eine sinnliche Stimmung generieren, die es einem
sehr leicht macht, sich allem nun Folgenden widerstandslos zu ergeben.
In einem Idealfall wie hier stellt auch der Text - mit teilweisen Originaltönen von Friederike
Mayröcker ab Schallplatte (!) - eine Einladung dar, sich nicht hauptsächlich mit dem Intellekt,
sondern vielmehr mit dem Gehör für Melodien und einem einigermassen Rhythmusgefühl
darauf einzulassen. So wunderts kaum, dass der Inhalt dieser Lesung über Clara und Robert
Schumann nicht integral zusammengefasst werden kannn. Nicht nur, weil die Sprache häufig
assoziativ poetisch ist, sondern auch, weil die Themenreichweite ein ganzes menschliches
Leben umschreibt und eine solche Fülle an Glück, Zweifeln, Sehnsucht, Fragen und Bedauern
auf zwei, drei Kernsätze einzudampfen eine regelrechte Anmassung wäre.
Das Projekt "Vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn" bleibt aber als
leuchtendes Beispiel einer Arbeit in Erinnerung, die sich vollends auf die magische Kraft der
Sprache verlässt und höchstens mit pointierten Interventionen die Einladung zum Verführt-
werden noch unwiderstehlicher werden lässt. Süss lockende Worte.

Thierry Frochaux, April 2013, P.S.






Foto © Bernhard Fuchs
Karawane, die Treppe hinuntersteigend, sogar Theater Zürich, 11.5.2011

Schwimmwesten fürs Publikum


Im Grenzbereich von Sprache und Musik: Peter Schweiger und Petra Ronner kommen dreimal
St. Gallen. Unter dem Motto «Sprechmusiksprachen» sind die Pianistin Petra Ronner und der
ehemalige St. Galler Schauspieldirektor Peter Schweiger dreimal in drei St. Galler Bibliotheken
zu Gast. Sie entführen ab morgen in Melodramen und Lautgedichte.


«Eigentlich sollten wir ans Publikum Schwimmwesten verteilen, denn der Abend kann riskant werdend», lacht Petra Ronner. Mit «Karawane, die Treppe hinuntersteigend» geht es morgen im Sitterwerk los. Ronner und ihr Partner Peter Schweiger (bis 2004 Schauspieldirektor in St. Gallen) haben reiche Beute gemacht in der Welt des Melodrams, des Dadaismus und manch anderer experimenteller Form. Drei Abende in drei St. Galler Bibliotheken: Was bis letzte Woche als Trilogie im Zürcher Sogar Theater mit Klavier und Rezitation erfolgreich über die Bühne ging, kommt jetzt nach St. Gallen. «Vom Lautgedicht zur Sprechblase» ist der morgige «Karawane»-Abend untertitelt. Und der Blick auf den Programmablauf verspricht Spannendes, auf jeden Fall Un-Erhörtes, Überraschendes, Rares, aber auch Lustvolles.


Wenn Sprache musiziert
An allen drei Abenden der «Sprechmusiksprachen» wollen die Pianistin und der Schauspieler Grenzbereiche zwischen Wort und Sprache ausloten. Wann drängt es die Musik förmlich zur Sprache, wann fängt sie an zu sprechen? Wann wird Sprache musikalisch, wann musiziert sie? Welche unterschiedlichen, vielleicht auch experimentellen oder durchaus auch absurden Ergebnisse zeitigt das Aufeinandertreffen oder gar Aufeinanderprallen von Musik und Sprache? Man könnte die achtzehn Nummern des morgigen ersten lautgedichtigen und sprechblasigen Abends durchgehen. Da gibt es ein paar bekannte Dadaisten darunter, aber auch Schubert, Schönberg und Satie. Auch Pianistin Petra Ronner selbst hat sich daran gemacht, die Schnittstellen zwischen Sprache und Musik zu erkunden und eigene Klänge beizusteuern. Petra Ronner und Peter Schweiger tragen das fast kompendiumsmässig zusammen. Ein akademisches Programm über Dada, Lautgedicht und Musik-Wort-Experimente wird der Reigen aber natürlich nicht. Eher ein kleines neues Theaterstück selbst, morgen unterstützt auch durch Live-Elektronik mit Thomas Peter. «Karawane, die Treppe hinuntersteigend» will auch den Aufbruch in die Moderne nachzeichnen, als man dem überkommenen Wortideal des 19. Jahrhunderts nicht mehr traute und sich auf vielfältige Suche nach Sprache ohne Sinn machte, welcher sich dann hintenherum über die Musik allenfalls wieder in die Sprache hinein fädeln kann. Jedenfalls soll diese Begegnung mit Lautgedicht und Verwandtem ein belustigender, aber auch nachdenklicher Reigen werden, den die Pianistin im übrigen bewusst nicht auf einem Konzertflügel, sondern auf einem alten Klavier gestaltet.

Storch liebt Stachelschwein
Im Herbst sind Ronner und Schweiger nochmals zweimal in St. Gallen. Im «Sprechmusiksprachen»- Abend vom September verliebt sich ein Storch in ein Stachelschwein. Texte von Robert Walser übers Theater hat das Künstlerpaar mit Claude Debussys «La boît à joujoux» wieder selbst zu einer kleinen Theaterneuschöpfung kompiliert. Der dritte Abend im November präsentiert Melodramen einst und jetzt unter dem Titel «Laute Zählung». Zu hören sind dann Melodramen von Schumann, Liszt und Busoni. Aber auch sprachmusikalische Namen wie Ernst Jandl dürfen da natürlich nicht fehlen.

1. Abend «Karawane, die Treppe hinuntersteigend»: 18. Mai 2011, Sitterwerk St. Gallen, 20 Uhr. Teil 2 und 3 der Trilogie: 21.9., Bibliothek Vadiana; 23.11., Textilbibliothek (Textilmuseum), je 20 Uhr.


Martin Preisser, 17. Mai 2011 01:08:24, Tagblatt Online







Foto © Bernhard Fuchs



Was in der Seele blüht -

Melodramen im Sogar-Theater

Die Geschichte der Liaison von Musik und Sprache ist lang und vielgestaltig, und neben all den gesungenen Worten, all den Liedern, Kantaten, Opern ist eines heute fast vergessen: das Melodram.
Gesprochenes, literarisches Wort gesellt sich hier zu untermalender, ausstaffierender, überzeichnender Instrumentalmusik, und wie quer diese Gattung zu unseren Hörgewohnheiten liegt, zeigte der erste Abend der Trilogie «Sprechmusiksprachen» im Sogar-Theater Zürich.

Sprache als Instrument
Peter Schweiger stand am Notenpult, sprach, rezitierte, fuhrwerkte mit der Sprache herum, als sei sie ein formidables Instrument. Dazu spielte Petra Ronner zurückhaltend und sachte das charmante alte Klavier mit seinem silbrig scheppernden Nachklang.
Robert Schumann, Franz Liszt, Ferruccio Busoni waren mit Melodramen vertreten, und ihre Klavierstimmen verleugneten nicht, wofür diese Komponisten noch heute stehen: schwelgerische Melodien, kühne Harmonik, steter Klangfluss.
Und doch waren ihre Melodramen so konzipiert, dass Wort und Musik immer wieder isoliert erschienen, einander Platz machten und Lücken hinterliessen, etwa in Robert Schumanns und Friedrich Hebbels «Ballade vom Heideknaben». Lediglich Carl Loewe nahm in Theodor Fontanes Ballade «Tom der Reimer» den beständigen Rhythmus des Reims auf, hüllte die gesprochenen Worte ganz in Musik.
Petra Ronner präsentierte in der Uraufführung ihres Melodrams «Petroleum, Petroleum» auf einen Text von Gustav Meyrink eine beständige, sich in tonal-atonale Reibungen einschwingende Klangfläche, die die Sprache trug wie das Wasser ein Boot mit wertvoller Fracht. Und obwohl Peter Schweiger seine Stimme virtuos einsetzte, ertappte man sich, zu ersehnen, dass entweder das Instrument verstummen oder der Gesang beginnen möge.

Das Wort als Musik
Schweiger jedenfalls trat den Beweis an, dass gesprochenes Wort allein wie Musik in den Ohren klingen kann. Er rezitierte Ernst Jandl mit der Kraft eines Bildhauers, der sein Material formt, schlägt, zerfurcht, er liess seinen «Blitz» krachen, deklinierte stoisch «l'amour / die tür / the chair», sprach weise als «Eulen» mit Eulen. «Ich möcht so was was in der seele aufgeht und dort blüht», sagte er in Jandls «Nasal». Das hat das Publikum an diesem kurzweiligen Abend in Zürich bekommen.

Zürich, Sogar-Theater (Josefstrasse 106), bis 30. April. Teil 2 der Trilogie, «Storch und Stachelschwein», mit Texten von Robert Walser und Musik von Claude Debussy: 3. bis 5. Mai. Teil 3, «Karawane, die Treppe hinuntersteigend», mit Lautgedichten des 20. Jahrhunderts: 10. bis 12. Mai.

Jenny Berg; 30. April 2011, Neue Zürcher Zeitung; Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG